In der geschlossenen Station des Caritas Marienstifts bewahren Pfleger und Betreuer wertvolle Erinnerungen. Erinnerungen an lange Leben, die ihre Heimbewohner im Herzen tragen, jedoch meist vergessen haben.
Sanft legt Roswitha Kleefeld ihren linken Arm auf die Schulter von Silvia Schmid* – einer Frau mit grauen schulterlangen Haaren und einem lila Baumwollpullover. Stumm stehen sie dicht nebeneinander und blicken gespannt auf ein Holzkästchen. Kraftvoll drückt Roswitha Kleefeld den abgenutzten Startknopf des darauf stehenden CD-Players. Im Inneren beginnt sich eine unbeschriftete CD zu drehen. „Du bist die Rose, die Rose vom Wörthersee“, schallt ein stimmungsvoller Schlagerklassiker aus den Lautsprechern. Den leeren 20-Quadratmeter-Raum durchzieht eine spürbare Leichtigkeit. „Ihr Lieblingslied, das kennen Sie doch“, flüstert Roswitha Kleefeld Silvia Schmid ins Ohr. Ihre Hände wippen langsam von links nach rechts. Doch zu hören ist nur das Lied – keine Antwort.Silvia Schmid singt selten und noch weniger redet sie. Je mehr das Vergessen ihren Kopf einnimmt, desto öfter müssen Worte weichen.
Pflegerin Roswitha Kleefeld weiß, Musik hält die Krankheit nicht auf. Lieder helfen jedoch, sich zu erinnern. Seit 1995 sorgt sich die 56-Jährige um das Wohl der meist über 80-jährigen und an Demenz erkrankten Senioren der geschlossenen Station an der Pater-Josef-Mayer-Straße. Sie wäscht, pflegt und behütet. „Gemeinsam schaffen wir Ablenkung und einen geregelten Alltag“, ergänzt Kollegin Brigitte Kögl, die den Raum betreten hat. Als Betreuerin arbeitet sie Teilzeit und geht mit Bewohnern spazieren, liest vor und bastelt.
Doch eigentlich wollen die derzeit elf weglaufgefährdeten Bewohner nur eins: zur Tür hinaus. Alle sind auf dem Weg zu ihrem fixen Ziel. Die Mutter, die vergessen hat, ihr Kind abzuholen. Ein Freund, der um Hilfe schreit. Das dringend erforderliche Handeln nimmt in den Köpfen der Demenzpatienten den meisten Raum ein. „Man muss sie abholen, wo sie gerade sind“, betont Brigitte Kögl. Es sind Momentaufnahmen. Kein Tag ist gleich und immer müssen sie spontan reagieren. Für beide steht jedoch fest: Textzeilen sind tief im Gedächtnis verankert. „Logik und Zeitempfinden gehen verloren, doch das Gefühl für Lieder bleibt.“ „Es greift an, ohne dass es wehtut“ „Musik ist meist das letzte Zentrum, das abbaut“, bestätigt auch Pflegerin Roswitha Kleefeld, während die Schlagermelodie noch immer die gemütliche Wohnstube erfüllt. Ihre Lesebrille schiebt sie vorsichtig in Richtung Haaransatz – immer griffbereit. Die blonden Haare sind mit einem dicken Gummi zu einem lockeren Zopf zusammengebunden. Praktisch muss es sein. Daher auch die weiße Stoffhose und das rote Baumwoll-T-Shirt.
Plötzlich geschieht das, worauf Roswitha Kleefeld inständig gewartet hat. „Du bist die Schönste, die Schönste vom Strandkaffee“, singt Silvia Schmid im Chor mit den beiden Schlagersängern. Als hätte sie ihr Leben lang nie ein anderes Lied angestimmt. Jedes einzelne Wort an der richtigen Stelle. Eine Erinnerung, die beide wiedergefunden haben – auf unterschiedliche und doch gemeinsame Weise. „Es greift an, ohne dass es wehtut“, sagte Silvia Schmid beim ersten Mal zu Roswitha Kleefeld und fasste sich dabei an ihre linke Brust. Ob sie sich an einen sonnigen Tag am Wörthersee erinnert oder an ihre erste große Liebe, weiß keiner. „Entscheidend ist der Moment, der all das Vergessen kurz vergessen lässt.“„Was bleibt, ist der Moment“
Nicht nur Singen fällt den Bewohnern oft schwer, es sind einfache Dinge, die zur Herausforderung werden. Esse ich die Suppe mit Löffel oder Gabel? Wozu dient die Haarbürste? „Es reicht, die Bürste einmal an den Kopf zu halten. Dadurch ist die Bewegung wieder präsent“, sagt Betreuerin Brigitte Kögl. Seit acht Jahren nimmt sie jeden so, wie er ist. „Es sind Menschen und keine Demenzkranken.“ All ihre Bewohner seien auf eine liebevolle Weise desorientiert. Mit der Zeit hat die 58-Jährige ein Gespür für Vorlieben und Eigenheiten entwickelt. „Vergangenheit und Zukunft sind dabei unwichtig. Was bleibt, ist der Moment.“
Bei der Umsetzung ist die Einrichtung eine entscheidende Hilfe. Sie ist gerade groß genug, um den Überblick zu behalten. „Sonst verlieren sich die Bewohner und bekommen Angst.“ Im Sommer werden die Türen zum Garten geöffnet. Es entsteht ein natürlicher Rundweg vom Gemeinschaftsraum über den Garten zurück in die Wohnküche. Jeder kann sich frei bewegen – einfaches Denken ist entscheidend.Während Pflegerin Roswitha Kleefeld und Silvia Schmid die kurze Erinnerung genießen, begleitet Brigitte Kögl die restlichen Bewohner zur Singstunde. Ihr Weg führt durch die verschlossene lila Eingangstür. „Wo Liebe ist, wird das Unmögliche möglich“, steht in roter Schreibschrift auf der Glasscheibe. Brigitte Kögl drückt auf den weißen Kippschalter. Ein Streifen mit dem Text „Türöffner“ klebt darauf. Ganz oben, im Eck ist er versteckt und nur auf Zehenspitzen zu erreichen. Trotzdem würden viele Bewohner gerne mit Brigitte Kögl tauschen. Nur, um zu gehen, wohin auch immer sie es gerade treibt. Mit einem kräftigen Zug öffnet Brigitte Kögl die Tür und augenblicklich erfüllen mehrstimmige Gesänge den Gang – begleitet durch das Zupfen einzelner Zitherseiten. Wie ein ausgeschilderter Weg führt die Melodie der Volksmusik zum Gemeinschaftraum des Seniorenheims. Auf jedem der einzelnen massiven Holzstühle wartet gespannt ein Heimbewohner. Auf den letzten freien Platz setzt Brigitte Kögl eine der Bewohnerinnen und gibt ihr eine Liedermappe in die Hand. Sie rückt ihre Brille zurecht und zieht den Gummi um ihren braunen Pferdeschwanz enger.
Noch vor Beginn des nächsten Liedes haben viele den Text wieder weggelegt. Durch Zupfen lässt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin erneut die Zither erklingen, und aus der Erinnerung heraus beginnen alle den Schneewalzer zu singen. „Es ist berührend. Musik ist ein Türöffner“, sagt Brigitte Kögl.Angst, einmal selbst zu vergessen, hat Betreuerin Brigitte Kögl nicht: „Jeder wünscht sich, die Krankheit nie zu bekommen. Doch es ist nicht das Ende eines lebenswerten Lebens.“ Denn in der geschlossenen Abteilung sind die Bewohner geborgen. Beim Abspülen oder Tischdecken spüren sie, dass sie gebraucht und geschätzt werden.
Pfleger und Betreuer respektieren sie für ihre Leistungen und das gibt Halt – „wie ein Anker“. Aufhalten können die Mitarbeiter jedoch weder das Vergessen noch das Sterben. Geht ein Bewohner von ihnen, schmerzt es. Über Monate und Jahre hinweg entstehen enge Beziehungen und Verbindungen. Man muss mit sich im Reinen sein und akzeptieren, denn „der Tod gehört leider mit dazu“. „Manche Bewohner vergisst man trotzdem nie“, versichert Brigitte Kögl lächelnd.„Vergessen Sie mich also bitte nicht“
Kurz nach 17 Uhr. Die Singstunde ist beendet und alle sind zurück auf der geschlossenen Station. Die Abendsonne ist hinter den weißen Hausfassaden untergegangen und Bewohnerin Silvia Schmid auf ihrem Zimmer verschwunden. Im sonst gut besuchten Gemeinschaftsraum sind nur noch Brigitte Kögl und Erwin Maier*. Mit kleinen Schritten schlurft er im dunkelblauen Pullover an den gereihten Holztischen vorbei. Das lichte braune Haar locker über den Hinterkopf gekämmt. Seine Pantoffeln verlassen nie ganz den hellgrauen Linoleumboden. Bei jedem Blickkontakt schenken sich Brigitte Kögl und Erwin Maier ein stummes, aber aufrichtiges Lächeln. „Er spricht schon lange nicht mehr. Doch es braucht nicht immer Worte.“ Erwin Maier findet selten Rast. Die meiste Zeit ist er auf den Beinen und spaziert lautlos über die Station. „Manchmal müssen wir ihn zum Pausieren bewegen“, sagt Brigitte Kögl und blickt Erwin Maier hinterher, der langsam den Raum verlässt. Sie nimmt letzte Bücher vom Tisch und räumt sie zurück in die weiße Regalwand.
Plötzlich schiebt eine 80-jährige Frau im gelben Pullover ihren Gehwagen durch den hölzernen Türrahmen. „Mein Telefon geht nicht mehr“, sagt Marianne Bauer* hastig und rückt ihre Handtasche am Rollatorgriff zurecht. „Da schauen wir gleich nach“, beruhigt Brigitte Kögl und streicht ihr behutsam über den faltigen Handrücken. Fast banal klingt diese Aufgabe. Sie gehört jedoch ebenfalls zum Alltag auf der geschlossenen Station. Während Marianne Bauer eigentlich schon wieder gehen will, hält sie noch einmal inne: „Ein Telefon braucht man heutzutage. Vergessen Sie mich also bitte nicht, das liegt mir sehr am Herzen.
“Info*Alle Namen der Heimbewohner wurden geändert.