Über 40 Jahre hat Martin Ernst (65) als Sozialpädagoge bei der Caritas gearbeitet. Er kennt sehr viele, ihn kennen sehr viele. Die Gemeinwesen- und Brennpunktarbeit ist sein Faible, besonders am Schanzlweg. Mit Kindern, Jugendlichen und Familien als erstem Adressat.
Dort ist dank langem Atem und Vertrauensbildung bei den Bewohnern, Unterstützung dieser Strategie durch Stadt und Städtische Wohnungsbau Gesellschaft, der Weg zum Quartiersmanagement eingeschlagen.
Martin Ernst ist zum 1. August in Ruhestand getreten. Wir sprachen mit ihm über seine sozialpädagogischen Anfänge, über die Chancen, Stigmata zu überwinden und seine Einschätzung, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln wird.
Wie sind Sie eigentlich zur Caritas gekommen?
Martin Ernst:
Ich habe an der Fachoberschule den Sozialen Zweig besucht und das zugehörige Praktikum bei der Caritas in der damaligen Hausaufgabenstube am Schanzlweg absolviert. Als ich Soziale Arbeit an der Landshuter Fachhochschule studierte, habe ich mein Praxissemester wieder dort abgeleistet. Als unvermutet eine Stelle frei wurde, hat mir der damalige Caritas-Geschäftsführer Alois Eherer diese kurzerhand als Berufsanfänger angeboten. Am 1. Februar 1981 habe ich angefangen.
Was hat Sie bewogen, Sozialpädagoge zu werden?
Martin Ernst:
Von Kindesbeinen an bin ich beim DJK (Sportverein) aktiv und dort früh eingespannt worden, Trainer bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Das hat mir immer Spaß gemacht. Und an mir selber habe ich auch gute Jugendarbeit erfahren. Dann lag es nahe, Soziale Arbeit zu studieren.
Woher kommt das Faible für Brennpunktarbeit? Was fordert dabei am meisten heraus?
Martin Ernst:
Der Reiz ist die große Bandbreite an sozialen Fragen konzentriert in einem Wohngebiet. Das bedeutet sehr viel Beziehungsarbeit, um das Vertrauen der Bewohner zu gewinnen. Denn Vertrauen ist die Basis für alles. Die Leute kommen mit Existenzsorgen, Partnerschafts-, Erziehungs-, Suchtproblemen. Man ist da als Sozialpädagoge vergleichbar mit der Rolle eines Hausarztes. Der ist auch immer wieder mit ihm bekannten Menschen konfrontiert, begleitet sie mit unterschiedlichen Fragen über einen längeren Zeitraum und bekommt Einblick in deren persönliche Situation. Damals gab es noch lange nicht so viele ausgebaute Fach-Beratungsstellen wie heute, die sehr spezialisiert arbeiten. Wir hatten aber mehr Zeit für Sozialarbeit, die ohnehin in ihrer Wirkung auf Langfristigkeit angelegt ist. Daher lag die Arbeit in und mit Kindertagesstätten nahe. Bei Kindern und Jugendlichen muss man ansetzen, da kann man noch etwas bewirken. Insgesamt ist der Reiz daran ein Geben und Nehmen. Ich habe viele andere Kulturen kennengelernt, zunächst fremd erscheinende Gebräuche, eine ganz besondere Art von Zusammenhalt. Der Blick ging auch auf Positives. Und ich habe Freunde gewonnen.Es wird wieder soziale Verwerfungen geben
Was sind Ihre ersten Erinnerungen an den Schanzlweg... und was verbinden Sie heute damit?
Martin Ernst:
Als junger Sozialpädagoge fühlte ich mich wie in eine andere Welt geworfen. Natürlich war mir als Straubinger der Schanzlweg ein Begriff, aber das waren schon tiefere Einblicke. Die Problemlagen riesengroß. Bei vielen ging es um die Existenz. Da wurde der Strom abgesperrt. Dort waren Mietschulden. Da lebten acht Leute in zwei kleinen Zimmern. Helfen hieß damals, staatliche Hilfen erschließen, Ratenzahlungen vereinbaren, Zahlungsaufschub verhandeln... Ich fürchte, das wird jetzt wieder Thema werden, wenn die Energiepreise kriegsbedingt so explodieren und Lebenshaltungskosten weiter steigen. Es wird soziale Verwerfungen geben, die Schere zwischen Arm und Reich wird wieder weiter auseinandergehen. All die Hilfe, die wir damals vermittelt haben, hat für Vertrauen gesorgt, dann ist man auch bei anderen Fragen angesprochen worden. Ziel war, über Kinder und Jugendliche Veränderungen zu erreichen, denn einen zum Beispiel 50-jährigen Klienten noch formen zu wollen, ist schwer. In einer bildungsfernen, ja manchmal bildungsfeindlichen Umgebung muss man bei den Kindern ansetzen. Wenn die Kinder zufrieden sind, sind auch die Familien zufrieden. Egal ob Familien mit Migrationshintergrund, Deutsche oder Sinti. Heute hat sich das Viertel sehr verändert. Die Adresse Memelerstraße ist entleert. Früher hatten wir es mit 200 Familien zu tun. Sepp Fauner hat hohen Anteil, dass die Wohnlage sich entspannt hat und Menschen auch anderswo untergekommen sind. Heute sind die Problemstellungen nicht nur existenzieller Natur. Es sind auch Zukunfts-, Berufs- oder Schullaufbahn- und Erziehungsfragen .Manche Städte haben nur neue Ghettos geschaffen
Sie haben in der langen Zeit wahrscheinlich von manchen Familien mehrere Generationen erlebt. Wie stellen sich Ihnen deren Realitäten dar - früher und jetzt?
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Leute aus ihrem Umfeld herauskommen?
Martin Ernst:
30, 40 Jahre Sozialarbeit haben schon etwas bewirkt. Die Einstellung zu Bildung und lohnabhängiger Arbeit bei vielen hat sich positiv verändert. Viele sind dezentral untergekommen. Manche Städte, die nur auf neuen Wohnraum ohne langfristige Begleitung gesetzt haben, mussten mit zeitlichem Abstand feststellen, dass es zu Ghettobildung innerhalb der Stadt gekommen ist. Straubing ist einen anderen Weg gegangen, einen langsameren, aber dafür effektiveren. Es wurden Wohnungen in unterschiedlichen Stadtteilen belegt und vor allem ist Bildungsarbeit gefördert worden. Die, die den Brennpunkt verlassen haben, haben es in aller Regel dauerhaft geschafft. Die Wirtschaftslage ist jungen Leuten entgegengekommen, auch welche mit schlechteren Noten haben eine Chance bekommen. Sie mussten nicht länger für eine Lehrstelle unzählige Bewerbungen schreiben oder Dutzende Praktika ableisten. Da brauchen die Jugendlichen moralische Unterstützung, um nicht die Motivation zu verlieren. Wir haben die meisten, die arbeitswillig sind, in Ausbildung gebracht. Vor 15 Jahren war das noch anders. Inzwischen ist es auch nicht mehr so, dass die Familien im sozialen Brennpunkt die Förderschule von vornherein als "ihre" Schule empfinden, sondern meist in der Regelschule Fuß fassen können. Das Verhältnis der jetzigen Elterngeneration zur Institution Schule ist jetzt generell besser. Es passiert mir immer mal wieder, dass mich in der Stadt Leute ansprechen, "kennst mi no?" Es sind frühere junge Bewohner aus dem Brennpunkt, die inzwischen selber Familie haben und einen Job und mitten im Leben stehen. Da freue ich mich. Und es freut mich auch, dass sie mich ansprechen, schließlich haben wir uns in einer Krisenzeit kennengelernt, die sie längst hinter sich haben, zu der sie aber ganz offenkundig stehen. Straubing-Ost hat beste Voraussetzungen
Was sehen Sie als größten Erfolg?
Martin Ernst:
Ein Erfolg ist der Aufbau des Referats Kindertagesstätten der Caritas mit sieben Kindertagesstätten und drei Mittagsbetreuungen und einigen Ganztagsschulprojekten. Und dieses Referat über Jahrzehnte skandalfrei zu führen. Als Erfolg sehe ich auch, dass es für Eltern, egal welcher Religion, kein Thema ist, ihr Kind in eine kirchliche Einrichtung zu schicken. Und dass die Stadt Straubing, die Caritas und ihre Mitarbeiter den langen Atem hatten und haben, an der Gemeinwesenarbeit dranzubleiben, einschließlich der Wende hin zum Quartiersmanagement als neuer Phase. Jetzt ist es an der Quartiersmanagerin, das Eigenpotential der Bewohner zu aktivieren und zusammenzuführen. Es gibt Pläne für ein Stadtteil-Sozialzentrum mit Räumen für ein Kinderhaus, für das Quartiersmanagement, für einen Familienstützpunkt und für einen Bewohner-Treff. Ich hoffe nur, dass die explodierenden Kosten das Projekt nicht bremsen. Straubing-Ost ist ein Stadtteil mit besten Voraussetzungen, hohem Freizeitwert - von Aktivspielplatz bis Skaterpark - und hervorragender Infrastruktur - von Ärzten, Einzelhandel bis zu ÖPNV-Anbindung. Die Neubauten an der Reichenbergerstraße bieten Wohnraum generell für Wohnungssuchende. Das ist quasi ein Schritt in die Neutralität. Viel zu verdanken ist da auch Günther Krailinger, dem jüngst verstorbenen Geschäftsführer der Städtischen Wohnungsbau Gesellschaft. Er hat die Bedeutung von Sozialarbeit und Wohnungsbauplanung deutlich gesehen und gefördert.
Welche Menschen haben Sie am meisten beeindruckt?
Martin Ernst:
Gefordert und gefördert hat mich der frühere Caritas-Geschäftsführer Alois Eherer. In meinen beruflichen Anfängen ist er, wenn es darauf ankam, hinter mir gestanden und wenn es sein musste, auch vor mir. Wenn man sich einsetzt für Menschen, die Defizite aufweisen, und gegen Missstände, macht man sich nicht nur Freunde. Geprägt hat mich auch Sepp Fauner, ein früh verstorbener Kollege, ein Sozialarbeiter, dessen Methoden mir anfangs recht unorthodox erschienen. Er hat die Dinge aber auf seine ganz eigene Weise gesehen. Und er hatte Erfolg damit. Sein Umgang mit Familien war unnachahmlich, sein lockeres Zugehen auf Menschen überhaupt. Auf Bewohnerseite haben mich die Mütter in Großfamilien immer beeindruckt. Sie haben die sozialen Probleme gemanagt, die Problematik geringer Bildung, mit wenig Geld und schwierigen Lebens-Partnern. Sie haben die Last der Familie getragen und sie zusammengehalten.
Sozialarbeit? Heute 60 Prozent Verwaltung
Wollten Sie mit heutigen jungen Sozialpädagogen tauschen?
Martin Ernst:
Die heutigen Sozialpädagogen haben es nicht leichter. Die Aufgabenpalette ist größer, die Belastung auch, erst recht der Erfolgsdruck. Vor allem haben sie es mit mehr Bürokratie zu tun. Ehe man heute eine Veränderung anstoßen kann, muss man erst mal einen Stapel Verordnungen wälzen. Erst recht in Coronazeiten. Als ich anfing, waren 95 Prozent der Arbeit Sozialarbeit, inzwischen sind 60 Prozent Verwaltungsarbeit.
Was haben Sie sich für den Ruhestand vorgenommen?
Martin Ernst:
Ich bin erst seit 1. August in Ruhestand und habe bis November noch zehn Stunden pro Woche eine Elternzeitvertretung übernommen. Jetzt fühlt es sich noch an wie ein längerer Urlaub. Mir wird in diesen Tagen, wo die Einrichtungen wieder öffnen, so richtig bewusst, dass ich mich nicht aufs neue Schuljahr einstellen muss. Langweilig wird mir aber sicher nicht. Ich will mich vermehrt bei der DJK und ein paar Wochenstunden ehrenamtlich im Sozialbereich engagieren. Ansonsten will ich die freie Zeit genießen. Lesen. Mein Garten freut sich auf mehr Zuwendung. Zeit für Freunde und Kurzreisen. Für das, was immer hintangestellt wurde. Ein großer Plan steht noch nicht.
Interview: M. Schneider-Stranninger
SR Tagblatt 02.09.2022